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(Über-) Lebens­ge­schichten

  07.10.2023

Bis zum letzten Atemzug Geschichte erzählen

Yonati Shlezinger aus Israel spricht erneut in der Gothaer Gesamt­schule „Herzog Ernst“

Die Israelin Yonati Shlezinger ist in Gotha keine Unbekannte, denn sie war im November 2015 zu Gast, um am Jahrestag der Reichs­po­gromnacht am „Marsch des Lebens“ teilzu­nehmen, der mit einer christlich-jüdischen Gemein­schaftsfeier in der Margare­then­kirche endete.

Damals hatte sie sich auch auf Spurensuche nach ihren familiären Wurzeln begeben, denn ihr Vater Josef Werner Strupp wurde 1913 hier geboren. Auf dem Jüdischen Friedhof besuchte sie das Grab ihrer Großeltern und ihres 1930 jung verstorbenen Onkels Hermann.
Acht Jahre später weilte die mittlerweile 70-Jährige mit ihren Mann Meir erneut in der Heimatstadt ihrer Vorfahren väterli­cherseits, um am Dienstag – wie bereits 2015 – in der Kooperativen Gesamt­schule „Herzog Ernst“ vor 80 Schülern der gesamten Klassenstufe 11 über das Schicksal ihrer Eltern zu sprechen.
Am Abend wurde sie dann in der Aula von Geschichts­lehrer Sebastian Stephan zu einem Zeitzeu­gen­ge­spräch begrüßt, das unter dem Motto „(Über)Lebens­ge­schichten“ stand. Stephan (damals noch Schran) gehörte 2003 als KGS-Schüler der ersten Generation an, die sich im Rahmen ihrer Seminar­fach­arbeit mit dem Thema „Juden in Gotha“ beschäftigt hatten.

Das Zeitzeu­gen­ge­spräch mit Yonatit Shlezinger war die erste diesjährige Veranstaltung in der Vortragsreihe „Gotha diskutiert“. Da sie auf Hebräisch stattfand, fungierte der in Israel geborene und seit zwei Jahren als Lehrer in Erfurt arbeitende Ben Zion Gavrielov als Dolmetscher.

Yonati begann mit dem Schicksal ihres Vaters Werner, der das jüngste von drei Geschwistern war. Bereits im Alter von drei Jahren verlor er seinen Vater, der als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und von dort krank zurück­kehrte. Seine Mutter Rosi musste deshalb das Textil­ge­schäft in der Querstraße 4 allein weiter­führen.
Nach der Luther­schule besuchte Werner das Gymnasium Ernestinum. 1933 musste er nicht nur den ersten Judenboykott miterleben, sondern auch den Tod seiner Mutter, nachdem sie ihr Geschäft für nur eine Mark hatte verkaufen müssen. Er sah deshalb für sich keine Zukunft in Deutschland und wollte nach Palästina.
Dies gelang ihm schließlich Ende 1935, nachdem er auf einem Bauernhof bei Nazigegnern gearbeitet hatte. Über Triest ging die Reise nach Palästina, wohin seine ältere Schwester Renny bereits 1933 emigriert war. Werner Strupp hat mit Freunden einen Kibbuz errichtet, wo er 1949 die aus Galizien stammende Holocaust-Überlebende Rachel Helfgott kennen­lernte und heiratete.
Auf deren tragisches Schicksal ging Yonati Shlezinger im zweiten Teil ihres Vortrages ein. Ihr Großvater Moshe Helfgott war Direktor einer höheren jüdischen Schule in Stryj in der heutigen Ukraine, das 1941 von der Wehrmacht besetzt wurde. Im Ghetto wurde Rachels Sohn Amos geboren, der kurz darauf verstarb.

Von der sieben­köpfigen Familie Helfgott überlebte nur sie. Bis 1948 musste sie im DP-Lager Föhrenwald als Lehrerin arbeiten, ehe auch sie mit dem Umweg über Zypern nach Israel ausreisen durfte. Das Ehepaar Strupp lebte im Kibbuz und bekam 1950 und 1953 die beiden Töchter Shoshana und Yonati.
Letztere sieht es inzwischen als ihre Pflicht an, bis zum letzten Atemzug nach Deutschland zu kommen, um die Geschichte ihrer Eltern zu erzählen, die übrigens hochbetagt in Israel starben.

Meir und Yonati Shlezinger aus Israel – hier mit Geschichts­lehrer Sebastian Stephan – waren nach acht Jahren erneut zu Gast in der Herzog-Ernst-Gesamt­schule und bekamen die Neuauflage des Buches „Jüdisches Leben in Gotha“ geschenkt.

Text: Matthias Wenzel

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